Die Kopftuchdebatte in Deutschland beschäftigt auch die Gemüter in Arabien. Als deutsche Kopftuchträgerin muss ich beide Seiten bedenken.

Als ich vor fast 18 Jahren in London, wo ich damals anfing, Arabisch und Politik zu studieren, zum Islam übertrat, entschied ich mich fast gleichzeitig auch für das Tragen des Kopftuches in der Öffentlichkeit. Es war meine freie Entscheidung und ich hatte meine eigenen religiösen Gründe dafür. Es war damals für mich eine natürliche Entscheidung, obwohl ich mir der Konsequenzen und der folgenden Reaktionen meiner nicht muslimischen Mitmenschen durchaus bewusst war. Diese reichten von Verwunderung bis hin zu der Meinung, dass ich total durchgeknallt sei.

Den ersten männlichen Moslem, den ich erst zwei Jahre zuvor persoenlich traf, bedachte ich mit der Bemerkung (nachdem er auf meine Frage, woher er denn herkäme, mit Arabien antwortete), dass er also daher stamme, wo man die Frauen unterdrückte. Spontan lud er mich in sein Heimatland ein, um mir das Gegenteil zu beweisen. Heute lebe ich selber in Arabien und weiss, dass es auch ganz anders ist, wie es uns im Allgemeinen unsere Vorurteile in Deutschland glauben lassen. Vergessen war das Erlebnis meiner ersten bewussten „Begegnung“ mit türkischen Muslimen und das daraus resultierende Gefühl, an das ich mich erst wieder später erinnerte. In meiner Kindheit während eines Sommerausfluges mit meiner älteren Schwester ins Grüne, sahen wir nicht unweit von uns eine Gruppe türkischer Frauen mit Kopftuch. Auf meine Bemerkung, ob die nicht vor Hitze eingehen werden, antwortete meine Schwester wie selbstverständlich, dass laut einer alten Weisheit bekanntlich alles was gut gegen Kälte sei, auch gut gegen Hitze wäre. Ob das nun stimmt oder nicht war damals nicht wichtig, ich erinnere mich nur daran, dass mir meine Schwester mit ihrer Bemerkung ein Gefühl der Toleranz vermittelte, bewusst oder unbewusst, denn ich dachte, sie wolle nicht, dass ich diese Menschen verurteilte, ohne sie näher zu kennen.

Viele Jahre später, in London während meines Studiums, hatte ich dann selber engen Kontakt zu dort lebenden arabischen und persischen Muslimen, deren Frauen alle Kopftuch trugen und die sich sehr von den türkischen Muslimen unterscheiden. Als Weltmetropole bietet London allen religiösen Richtungen absolute Freiheit und das Kopftuch war niemals ein Thema des Anstosses solange ich dort war. Wen wundert es, dürfen doch dort auch hinduistische Polizisten den traditionellen Bobby Helm der „royal policemen“ mit einem Turban der gleichen Farbe austauschen! In Deutschland wahrscheinlich undenkbar.

Durch meine orientalischen Freundinnen machte ich aber auch die Erfahrung, wie schwierig es für junge Mädchen mit Kopftuch in der Schule sein konnte, da die Tochter einer meiner Freundinnen anfänglich in ihrer Schule die einzige Kopftuchträgerin war. Meine Freundin frug gerade mich, was sie ihrer Tochter denn antworten solle, wenn sie weinend nach Hause kam, weil sie wegen ihres Kopftuches gehänselt wurde und es deshalb manchmal nicht anziehen wollte. Dieses Problem war zu erwarten, denn besonders Kinder wollen nicht anders sein als die anderen oder fremd auffallen. Mein einziger Rat damals an meine Freundin war (wusste ich nur zu genau, dass es ihre strenge Einstellung ihrer Tochter nicht erlauben würde, ohne Kopftuch in die Schule zu gehen), dass sie mit ihrer Tochter reden und ihr erlauben müsse, über ihre Ängste und Frustration offen zu sprechen, ohne dass sie wiederum Angst haben müsse, von ihren Eltern dafür kritisiert oder, noch schlimmer, weniger geliebt zu werden. Die Mutter musste Verständnis für die schwierige Situation ihrer Tochter zeigen. Einen besseren Rat hatte ich damals noch nicht parat. Somit musste ich mich schon von Anfang an mit diesem Thema beschäftigen, zumal ich selber vielleicht einmal Töchter bekam.

Einige Jahre später sollte noch ein Erlebnis in meinem Gedächniss haften bleiben, als ich als Englischlehrerin in einer arabischen Schule unterrichtete und ein Mädchen bitterlich weinend ins Lehrerinnenzimmer kam, weil sie ihr Kopftuch vergessen hatte und dafür von den anderen ausgelacht wurde (verdrehte Welt, aber ähnliche unsensible Verhaltensweisen). Es war meine dänische Kollegin, eine Christin (nicht die arabischen Glaubensschwestern), die damals wie selbstverständlich ihr Halstuch abzog und es dem Mädchen um den Kopf band, mit der beruhigenden Bemerkung, dass sie sich keine Sorgen machen und nicht weinen müsse, denn das kann eben mal passieren und sie sei deswegen kein schlechter Mensch. Sie versuchte nicht, wie es ihre eigene Meinung war, das Mädchen davon zu überzeugen, dass das Kopftuch gar nicht nötig sei (was dessen innerer Verletztheit in dem Moment wohl auch nicht geholfen, sondern es noch mehr verwirrt hätte). Im Gegenteil, ich war überrascht mit wieviel Verständnis und Einfühlungsvermögen sie diesem Mädchen damals half, dessen erleichtertes Lächeln ich bis heute nicht vergessen kann. Kinder und junge Menschen wollen und dürfen nicht wegen ihres Äusseren gehänselt oder diskriminiert werden. Sie können und vorallem dürfen meist noch nicht für sich selbst entscheiden und werden dadurch schnell zu Opfern. Das wollte und musste ich für meine Kinder verhindern. Denn als deutsche Mutter mittlerweile zweier halb-arabicher Töchter wusste ich sehr genau, dass ich meine eigenen Mädchen niemals zu diesem Schritt zwingen konnte, noch wollte. Deshalb musste ich mich notgedrungen einer offenen und kritischen Auseinandersetzung mit diesem Thema stellen.

Kinder brauchen eine Umgebung, wo sie ihre Religion, wenn sie denn von der Familie intensiv praktiziert wird, ausleben können, sie sollen ihre Religion verstehen und, wenn sie es wünschen, mit dem Herzen und dem Verstand annehmen, ohne Zwang. Denn früher oder später führt Zwang zu Problemen und wir erhalten das Gegenteil von dem, was wir ursprünglich erreichen wollten. Vom Zwang abgeschreckt, werden die Menschen ihre Religion verlassen und vielleicht sogar hassen, selbst wenn sie sie gar nicht richtig kennen. Für mich, als deutsche Muslimin, ist es ein Muss, sich freiwillig an die Gebote einer Religion halten zu dürfen, das gebieten schon allein meine eigenen Umstände. Doch Kinder, die in eine Religion hineingeboren werden, haben diese Möglichkeit leider meist nicht. Zu viele Muslime reduzieren ihre Religion bedauerlicherweise noch immer zu einer Anhäufung von strengen Geboten und Verboten, mit denen sie ihre Kinder häufig zu ersticken drohen, anstatt sie mit Hilfe ihrer Religion spirituell und geistig wachsen und sie damit entfalten zu lassen. Doch traurigerweise verstehen die meisten den Islam nicht in diesem Sinne.

In Deutschland lebende muslimische Eltern müssen verstehen lernen, was sie ihren Töchtern antun, wenn sie sie in einer fremden Kultur aufwachsen lassen, ohne zu wollen, dass sie sich damit identifizieren, d.h. mit dem, was sie in ihrer Umgebung tagtäglich sehen, in der Schule, bei deutschen Freunden, im Fernsehen, eben die Kultur ihres Lebensraumes im Allgemeinen. Deshalb gab es für mich auch keine andere Alternative, als meine Töchter in einem islamischen Land aufwachsen zu lassen, zur staatlich, nach Geschlechtern getrennten Schulen zu schicken, in denen sie nicht wegen ihres Kopftuches auffallen, damit sie ihre Kindheit unbeschwert geniessen können, ohne ihren Kopf für den Kampf zwischen den Kulturen und den Religionen herhalten zu müssen.

Kinder wollen geliebt werden, Eltern lieben ihre Kinder besonders, weil sie denken, das sie ihnen ähnlich sind und sie sich daher selber in ihnen wiederfinden. Kleine Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern und wollen häufig alles tun, um die Erwartungen ihrer Eltern nicht zu enttäuschen. Doch wenn muslimische Mädchen in Deutschland zur Schule gehen, wird ihnen nicht nur durch die öffentliche Diskussion, sondern viel schlimmer für sie, durch unbedachte Verhaltensweisen und ablehnende Reaktionen (wie z.b. in Form eines bösen oder missbilligenden Blickes) vermittelt, dass sie falsch sind. Zu Hause wird ihnen wiederrum zu verstehen gegeben, dass sie falsch sind, wenn sie so werden oder sind, wie die deutsche „Leitkultur“ sie haben will und sich dort anpassen. Diese Kinder, trotz all ihrer Bemühungen in ihrer sowieso schon überstrapazierten Lebenssituation zwischen zwei Kulturen und zwei Religionen, können die zu hohe Erwartung „richtig“ zu sein und dadurch anerkannt zu werden nicht erfüllen.

Eine Lösung ist es sicherlich nicht, die Schulen in Deutschland nach Religionen oder nach Geschlechtern zu trennen, aber solange dem Kopftuch-Thema weiterhin mit so viel Vorurteilen begegnet wird; und solange das daraus resultierende Misstrauen der darin verwickelten Kulturen wächst; und solange eine mögliche Veränderung der Gesellschaft so vielen Menschen auf beiden Seiten Angst macht; und solange zumindest die Kinder nicht einfach toleriert werden können, wie sie aussehen (was zugegebenermassen nicht immer ihre eigene Entscheidung ist), solange werden die Mädchen noch mehr leiden, und solange tragen wir unsere Unreife auf deren Rücken aus. Denn diese Kinder verstehen höchstwahrscheinlich die Zusammenhänge ihrer Traditionen und Religion nicht, geschweige denn die politischen Hintergründe für die Aufregung der Deutschen, die für ihren sekulären Staat lange gekämpft haben, in dem Gleichheit und Freiheit für Alle herrschen sollen.

Ich habe es immer meinen Töchtern freigestellt, das Kopftuch abzunehmen, wenn sie sich, besonders in Deutschland, darin nicht wohl fühlen. Sie wollen das nicht tun, weil es Teil ihrer Identität und der Welt ist, in der sie leben, und das ist der springende Punkt. In Deutschland ist es nicht automatisch Teil der Identität der dort lebenden oder aufgewachsenen muslimischen Mädchen. Hinzukommt, dass in Deutschland oft ein Mangel an Toleranz in Bezug auf andere Religionen herrscht, worauf immer das zurückzuführen ist. Eine Antwort ist sicher eine bessere Integrationspolitik, die jedoch nicht einseitig durchgesetzt werden kann. Die Muslime in Deutschland (wie in ganz Europa) müssen genauso viel an der Aufklärung über ihre Religion arbeiten und Kritik an ihren Verhaltensweisen mit mehr Weitsicht verarbeiten, anstatt die „Ungläubigen“ gleich in die Hölle schicken zu wollen. Ich gebe zu, die fehlende Feinfühligkeit einiger Deutschen und die Sensibilität der Muslime in Bezug auf ihre Religion lassen diese Aufgabe nicht leichter werden. Denn Muslime wollen sich nun mal nicht von Nicht-Muslimen in ihre Religion reinreden lassen, und umgekehrt wollen die Deutschen natürlich auch nicht, dass Muslime ihre sekuläre Staats- und Gesetzesform beeinflussen. Wer könnte das nicht verstehen? Soll sich allerdings die Situation in Deutschland verbessern, müssen beide Seiten endlich aufhören, sich ausschliesslich im Recht zu fühlen und endlich damit beginnen, sich besser kennenzulernen. Das Kopftuch hat eine lange Geschichte und gehort auch zu der jüdischen Religion. Trügen in Deutschland alle Frauen jüdischen Glaubens das Kopftuch, würden wir sie dann auch so anfeinden? Ich hoffe nicht.